Die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder für Pflichtverletzungen des Vorstands

Das Berliner Kammergericht hat jüngst, durch Urteil vom 29.04.2021 (Az. 2 U 108/18, veröffentlicht in BeckRS 2021, 11268), zwei frühere Aufsichtsratsmitglieder einer insolventen Aktiengesellschaft gesamtschuldnerisch zur Zahlung von rund 1,6 Mio. EUR zuzüglich Zinsen, vorgerichtlicher Kosten und der Kosten des Rechtsstreits an den Insolvenzverwalter der Gesellschaft verurteilt.


Die Verurteilung beruhte auf einer von zwei früheren Vorstandsmitgliedern begangenen Insolvenzverschleppung, im Insolvenzverschleppungszeitraum von ihnen veranlassten (und wegen der vorherigen Insolvenzreife der Gesellschaft gesetzlich verbotenen) Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen an Dritte und darauf, dass die beklagten früheren Aufsichtsratsmitglieder es unterlassen hatten, dieses erkannt oder jedenfalls erkennbar gesetzwidrige Treiben des Vorstands zu unterbinden. Das ist in vielerlei Hinsicht lehrreich und deshalb berichtenswert.

Neues Recht ist altes Recht

Zunächst ist zu bemerken, dass die Verurteilung zwar auf § 116 S. 1 AktG i.V.m. §§ 92 Abs. 2 S. 1, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a.F. beruhte. Heutzutage würde sie sich jedoch genauso aus § 116 S. 1 AktG i.V.m. § 15 b InsO ergeben, wie auch das Kammergicht in seinem Urteil ausgeführt hat: „Die Beklagten können sich (…) nicht darauf berufen, dass nach der seit dem 1. Januar 2021 geltenden Rechtslage eine Pflicht des Aufsichtsrates zur Stellung eines Insolvenzantrages nicht mehr bestehe. Aufgrund der Verweisung in § 116 Abs. 1 AktG auf § 15b InsO besteht die Haftung der Aufsichtsräte einer Aktiengesellschaft auch nach neuem Recht fort“ (KG, aaO., Rn. 72).

Heute wie früher haften Aufsichtsräte also grundsätzlich in demselben Umfang wie der Vorstand für eine von diesem begangene Insolvenzverschleppung. Allerdings haften sie heute wie früher nicht allein deshalb, weil der Vorstand sich pflichtwidrig verhalten hat, sondern nur, wenn ihnen selbst eine Pflichtverletzung und ein persönliches Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) zur Last fällt. Eine solche persönliche Verantwortlichkeit kann jedoch ohne weiteres in einer Verletzung der die Aufsichtsratsmitglieder treffenden Pflicht zur Überwachung des Vorstands und zur Verhinderung erkennbar gesetzwidrigen Vorstandshandelns gesucht werden. Das Kammergericht ist in dem von ihm entschiedenen Fall jedenfalls fündig geworden, stellt es doch fest, dass die Insolvenzmasse nach Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft auf Veranlassung des früheren Vorstands um die ausgeurteilten rund 1,6 Mio. EUR „geschmälert worden [sei], was nicht geschehen wäre, wenn die Beklagten als Mitglieder des Aufsichtsrats wirksame Maßnahmen ergriffen hätten, um diese Zahlungen zu verhindern“ (KG, aaO., Rn. 42).

Man kann festhalten: Der Vorstand schuldet der Gesellschaft gesetzmäßiges Verhalten (sog. Legalitätspflicht). Der Aufsichtsrat hat sich zu vergewissern, dass der Vorstand seinen gesetzlichen Pflichten nachkommt. Mit den Worten des Kammergerichts: „Erkennt (…) der Aufsichtsrat, dass die Gesellschaft insolvenzreif ist, oder musste er dies erkennen (…) hat er darauf hinzuwirken, dass der Vorstand rechtzeitig einen Insolvenzantrag stellt und keine Zahlungen leistet, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nicht vereinbar sind; erforderlichenfalls muss er ein ihm unzuverlässig erscheinendes Vorstandsmitglied abberufen“ (KG, aaO., Rnrn. 53 und 56). Das gilt nicht nur für die Situation der Insolvenzreife, sondern generell. Es gehört zweifellos zu den Kardinalpflichten des Aufsichtsrats als Gremium und eines jeden Aufsichtsratsmitglieds persönlich, darauf zu achten, ob die Vorstandsmitglieder sich gesetzmäßig verhalten und erkannt oder erkennbar gesetzwidriges Verhalten zu unterbinden (sog. Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats).

Zahlungsunfähigkeit ist nicht die Unfähigkeit zu Zahlungen

Für den rechtlich nicht oder nur wenig bewanderten Leser mag es widersprüchlich erscheinen, dass zuvor von pflichtwidrigen Zahlungen in Höhe von rund 1,6 Mio. EUR die Rede ist, die der Vorstand geleistet habe, nachdem die Gesellschaft bereits zahlungsunfähig war. Wie soll, könnte man fragen, die Gesellschaft zahlungsunfähig gewesen sein, wenn sie doch noch 1,6 Mio. EUR gezahlt hat? Dazu muss man wissen, dass Zahlungsunfähigkeit nicht im Wortsinn zu verstehen ist. Rechtlich betrachtet ist zahlungsunfähig nicht erst, wer gar nichts mehr zahlen kann. Vielmehr beginnt die Zahlungsunfähigkeit gem. § 17 Abs. 2 S. 1 InsO bereits, wenn die Gesellschaft „nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen“, wofür es – vereinfacht gesagt – auf eine Gegenüberstellung der verfügbaren Zahlungsmittel und der fälligen Verbindlichkeiten ankommt. Selbst wer noch sehr viel Geld, unter Umständen viele Millionen EUR, auf dem Konto hat, kann also zahlungsunfähig sein, nämlich einfach dann, wenn die fälligen Verbindlichkeiten (noch) höher sind. Die Rechtsprechung hält insoweit eine Differenz („Unterdeckung“) von 10 % für maßgebend.

Insoweit lässt sich festhalten: Selbst hohe Liquidität garantiert keine Zahlungsfähigkeit. Das gilt auch für ständigen Liquiditätszufluss. Beides erleichtert es dem Vorstand – rein faktisch – aber, eine bereits eingetretene Insolvenzreife vor dem Aufsichtsrat zu verschleiern, indem er nur die drängendsten Forderungen begleicht, andere fällige Zahlungen aber hinausschiebt (bis es nicht mehr geht) und hierdurch den Eindruck erweckt, die Geschäfte gingen ihren gewohnten Gang. Der Aufsichtsrat darf sich zur Beurteilung der Lage der Gesellschaft deshalb nicht vom äußeren Eindruck blenden lassen, sondern muss sein Interesse gezielt darauf richten, ob der Vorstand ausreichend und überzeugend nicht nur zur Liquidität, sondern auch zu den fälligen Verbindlichkeiten der Gesellschaft berichtet.

Zahlungseinstellung ist quasi Zahlungsunfähigkeit

Rückblickend, also aus der Sicht eines die Insolvenz nachträglich beurteilenden Gerichts, ist die Gegenüberstellung früherer liquider Mittel und fälliger Verbindlichkeiten einer Gesellschaft oft sehr aufwendig, weil hierzu die gesamte Buchhaltung der insolventen Gesellschaft aufgearbeitet werden muss, soweit sie sich auf den Zeitpunkt der angenommenen Insolvenzreife bezieht.

Vor diesem Hintergrund gewährt § 17 Abs. 2 S. 2 InsO eine Erleichterung, denn hiernach ist „Zahlungsunfähigkeit (…) in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat“. Ab Zahlungseinstellung wird Zahlungsunfähigkeit also vermutet. Eine solche „Zahlungseinstellung ist dasjenige nach außen hervortretende Verhalten des Schuldners, in dem sich typischerweise ausdrückt, dass er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (…) Es muss sich mindestens für die beteiligten Verkehrskreise der berechtigte Eindruck aufdrängen, dass der Schuldner außer Stande ist, seinen fälligen Zahlungsverpflichtungen zu genügen“ (KG, aaO., Rn. 48).

Ausreichend ist, wenn der geschilderte Eindruck sich aus einer rückblickenden richterlichen Gesamtschau aufgrund von Indizien („Beweisanzeichen“) ergibt (KG, aaO., Rn. 50). Hiervon ausgehend hat das Kammergericht in dem von ihm entschiedenen Fall mit folgender Begründung – die sich mit ähnlicher Argumentation in vielen anderen Gerichtsentscheidungen findet – eine Zahlungseinstellung der Gesellschaft angenommen: „Nach dem unbestrittenen Vortrag des Klägers hatte die Insolvenzschuldnerin am 31. Dezember 2013 bereits Rückstände der Sozialversicherungsbeiträge bei der TKK H. in Höhe von 7.563,12 € und bei der S.-Betriebskrankenkasse in Höhe von 2.346,28 €, wobei sich die Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen auch in den Folgemonaten wiederholte. Ende 2013 gab es zudem unstreitig rückständige Gehaltszahlungen. Insgesamt beliefen sich die am 31. Dezember 2013 offenen und auch bis zu der Verfahrenseröffnung nicht mehr beglichenen Verbindlichkeiten auf mindestens 89.513,70 €. Abgerundet wird das Bild schließlich durch die im Januar 2014 von mehreren Seiten betriebenen Pfändungen gegen die Insolvenzschuldnerin. Nach alledem muss davon ausgegangen werden, dass die Schuldnerin bereits Ende Dezember 2013 nicht mehr in der Lage war, die fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.“ (KG, aaO., Rn. 51).

Man sieht: Sämtliche Umstände, die sich rückblickend betrachtet als nicht mehr pflichtgemäßes Schuldnerverhalten der Gesellschaft darstellen, sind grundsätzlich taugliche Indizien für eine Zahlungseinstellung und damit für eine Zahlungsunfähigkeit. Und je mehr Indizien gefunden werden, desto näher liegt die Annahme seinerzeitiger Zahlungsunfähigkeit. Für den Aufsichtsrat, der die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft nicht rückblickend, sondern gewissermaßen live beurteilen muss, bedeutet dies, dass darauf zu achten ist, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gibt, dass die Gesellschaft kein „guter Schuldner“ ist.

Die Aufsichtsratsmitglieder müssen gezielt nach solchen Indizien forschen und zwar genau ab dem Zeitpunkt, ab dem sie erstmals erkennen oder erkennen können, dass die Gesellschaft sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet. Die Erkenntnismöglichkeit ergibt sich aus einer Beobachtung der allgemeinen volkswirtschaftlichen Lage, insbesondere der Branche, in der die Gesellschaft tätig ist und aus einer fokussierten Überwachung des Vorstands durch sorgfältige Prüfung seiner Berichte: „Der Aufsichtsrat hat gemäß § 111 Abs. 1 AktG die Pflicht, die Geschäftsführung zu überwachen. Grundlage der Überwachung durch den Aufsichtsrat bildet die Vorstandsberichterstattung, die notfalls durch Fragen, Anforderungsberichte, Einsichtnahme, Prüfungen und Sachverständigentätigkeit ergänzt werden muss (…). Im Allgemeinen genügt der Aufsichtsrat seiner Überwachungspflicht dadurch, dass er (…) die Regelberichte des Vorstands nach § 90 Abs. 1 AktG sorgfältig prüft und mit dem Vorstand erörtert (…). Dabei hat der Aufsichtsrat darauf zu achten, dass die Regelberichte den gesetzlichen Mindestanforderungen entsprechen (…). Nach § 90 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3 AktG hat der Vorstand über den Gang der Geschäfte, insbesondere den Umsatz, und die Lage der Gesellschaft, vierteljährlich zu berichten. Insoweit hat der Vorstand in Textform und stets über die finanzielle Lage der Gesellschaft, insbesondere ihre Liquidität, zu berichten (…). Eingehen muss der Vorstand auf die Markt- und Auftragslage, außergewöhnliche Risiken und Besonderheiten des Geschäftsverlaufs (…). Erscheinen die Berichte unklar, unvollständig oder inhaltlich unrichtig, hat der Aufsichtsrat nachzufassen und ggf. eigene Nachforschungen anzustellen (…). Der Aufsichtsrat muss sich dabei ein genaues Bild von der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft verschaffen und insbesondere in einer Krisensituation alle ihm nach §§ 90 Abs. 3, 111 Abs. 2 AktG zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen (…)“ (KG, aaO., Rn. 55).

Weist der Vorstand in seinen Berichten an den Aufsichtsrat ausdrücklich – wenn auch vielleicht „verstreut“ an verschiedenen Stellen – auf Anzeichen einer wirtschaftlichen Krise hin (bspw. deutliche Verfehlung geplanter Umsätze, deutliche ungeplante Mehrkosten, Erzielung eines deutlichen Jahresfehlbetrags, deutliches Missverhältnis zwischen Verbindlichkeiten und Umlaufvermögen sowie liquiden Mitteln), ist das Pflichtenprogramm der Aufsichtsratsmitglieder klar umrissen, denn dann sind sie ab sofort verpflichtet, sich „nähere Kenntnisse über den finanziellen Stand“ der Gesellschaft zu verschaffen (KG, aaO., Rn 64), also darüber, ob Indizien für eine Insolvenzreife bestehen. Das ist dann auch keine Einmalaufgabe, sondern eine Dauerpflicht, die erst endet, wenn die Gesellschaft ihre wirtschaftliche Krise eindeutig überwunden hat.

Vertrauen ist gut, Misstrauen auch

Grundsätzlich darf der Aufsichtsrat den Berichten des Vorstands über die Lage der Gesellschaft vertrauen. Das gilt aber nur, wenn und soweit die Berichte den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und plausibel (also im Großen und Ganzen nachvollziehbar und nicht offenkundig unvollständig, unklar, widersprüchlich oder unbegründet) erscheinen. Außerdem verwandelt sich der Vertrauensgrundsatz in sein Gegenteil, nämlich ein Misstrauensgebot, sobald der Vorstand erstmals begründeten Anlass gibt, an seiner Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln. Dazu reicht es aus, wenn ein Vorstandsmitglied erstmals bei einer nicht völlig belanglosen falschen oder unvollständigen Berichterstattung oder einer anderen Pflichtverletzung „ertappt“ wird. Ab dann genügen die Aufsichtsratsmitglieder ihrer Überwachungspflicht nicht mehr ohne weiteres dadurch, dass sie sich mit beschwichtigenden Erklärungen der Vorstandsmitglieder begnügen.

Vielmehr müssen fortan vom Vorstand unabhängige Erkenntnisquellen genutzt werden, um zu plausibilisieren, ob die Berichterstattung des Vorstands die Lage der Gesellschaft zutreffend wiedergibt. Dementsprechend hat das Kammergericht im von ihm entschiedenen Fall nicht zur Verteidigung genügen lassen, dass die beklagten Aufsichtsratsmitglieder vorgetragen hatten, der Vorstand habe „immer wieder beteuert (…), dass es keinen Grund zur Besorgnis gäbe und keine Insolvenzgründe vorlägen. Auf welcher Grundlage der Vorstand derartige Äußerungen getroffen hat, bleibt völlig offen. Indem derartige Beteuerungen lediglich unkritisch zur Kenntnis genommen werden, ohne diese auf ihre Substanz zu überprüfen, wird die Tätigkeit des Vorstandes jedenfalls von vornherein nicht der erforderlichen Kontrolle des Aufsichtsrats unterworfen. Selbst wenn aber die Vorstände ihre Einschätzung mit konkretem Zahlenwerk untermauert hätten, so hätten die Beklagten sich nicht allein auf die bloßen mündlichen Informationen des Vorstandes verlassen dürfen, sondern hätten solche durch Einsicht in die Bücher der Insolvenzschuldnerin überprüfen müssen (…). Dass eine solche gewissenhafte Kontrolle der Tätigkeit des Vorstandes stattgefunden hat, haben die Beklagten schon nicht behauptet. So haben die Beklagten lediglich pauschal vorgetragen, dass sie Ende 2013 und Anfang 2014 regelmäßig bei den Vorständen angerufen und um aktuelle Informationen gebeten haben. Insoweit fehlt es aber an Vortrag dazu, durch welche konkreten Informationen und Unterlagen er sich von der Zahlungsfähigkeit der Schuldnerin hat überzeugen können. Insgesamt bleibt der Vortrag zu der Erfüllung der eigenen Informations- und Prüfpflicht oberflächlich.“ (KG, aaO., Rn. 65)

Ferner: „Die Beklagten können sich schließlich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Vorstand ihnen im Juli 2014 eine Liquiditätsplanung für den Zeitraum von Juli 2014 bis April 2015 vorgelegt habe, wonach im Dezember 2014 mit freier Liquidität in Höhe von 2.834.576,00 € und im April 2015 mit freier Liquidität in Höhe von 5.388.632,00 € zu rechnen gewesen sei. Denn zu diesem Zeitpunkt lagen die Insolvenzgründe bereits seit mehreren Monaten vor. Im Übrigen hätten sie auch hier nicht blind auf die Übersichten des Vorstandes vertrauen dürfen, sondern sich selbst unter Zuhilfenahme ihres Einsichtsrechts einen Überblick über die tatsächliche wirtschaftliche Situation der Schuldnerin verschaffen müssen“ (KG, aaO., Rn. 67).

Man kann festhalten: Aufsichtsratsmitglieder können sich gegen den Vorwurf einer Überwachungspflichtverletzung nicht erfolgreich mit der Behauptung verteidigen, sie seien vom Vorstand getäuscht worden, wenn sie nicht zugleich darlegen, welche konkreten Versuche sie unternommen haben, die Berichte des Vorstands durch von diesem unabhängige Maßnahmen zu überprüfen. Gerade wenn sich die Gesellschaft erkennbar in einer wirtschaftlichen Krise befindet, muss der Aufsichtsrat – schon weil Legalitätspflichtverletzungen nach allgemeiner Lebenserfahrung oft gerade durch krisenhafte Umstände heraufbeschworen werden – selbst bei einem bislang pflichtbewusst erscheinenden Vorstand mit möglichen Pflichtwidrigkeiten rechnen und deshalb ganz besonders darauf bedacht sein, zu verifizieren, was der Vorstand berichtet.

Vertrauen auf externe Berater

Soweit der Aufsichtsrat seiner Meinungsbildung eine von ihm selbst, vom Vorstand oder von Dritten in Auftrag gegebene externe Beurteilung zugrunde legt, trifft ihn – genauso wie hinsichtlich der Berichte des Vorstands – eine Plausibilisierungspflicht. Was externe Berater urteilen, darf also, selbst wenn der Berater fachkundig und namhaft erscheint, nie unkritisch übernommen werden, sondern ist daraufhin zu prüfen, ob es im Großen und Ganzen nachvollziehbar und nicht offenkundig unvollständig, unklar, widersprüchlich oder unbegründet erscheint: „Soweit die Beklagten behauptet haben, dass die P. GmbH ein Sanierungsgutachten nach IDW S 6 Standard erstellt habe und auch die Sparkasse noch im Juli 2014 von der Sanierungsfähigkeit ausgegangen sei und mit der Schuldnerin ein Stillhalteabkommen vereinbart habe, vermag dies an der Beurteilung nichts zu ändern. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass sowohl die Sparkasse als auch das Gutachten allein auf den Angaben des Vorstandes basierten, deren Wahrheitsgehalt von diesen nicht untersucht werden konnte. Im Übrigen wurde von der P. GmbH auch lediglich ein Vorabentwurf eines Unternehmensstatus (Quickcheck) und nicht – wie die Beklagten behaupten – ein Sanierungsgutachten erstellt. Insoweit heißt es auf Seite 5 des Berichts auch, dass mit der Erstellung des Sanierungsgutachtens erst nach Behebung der Unterdeckung sinnvoll begonnen werden kann. Dass sich diesem Quickcheck die Sanierungsfähigkeit der Schuldnerin entnehmen ließe, ist zudem nicht ersichtlich. Hieraus geht zwar hervor, dass die Unterdeckung durch Stundungsvereinbarungen bzw. Zahlung von Löhnen erheblich reduziert werden konnte, weiterhin aber 239.000,00 € an Unterdeckung verbleiben. Zudem handelt es sich schon deshalb nicht um eine abschließende Einschätzung, da den Gutachtern offenbar entscheidende Unterlagen fehlten, deren erforderlichen Vorlage in dem Katalog der weiteren Maßnahmen angeführt wird.“ (KG, aaO., Rn. 67)

Merke: Jegliche Berichterstattung an den Aufsichtsrat, sei es vom Vorstand, sei es durch externe Berater, ist einer Plausibilitätskontrolle zu unterziehen. An die Intensität der Kontrolle legt die Rechtsprechung strenge Maßstäbe an und zwar so strenge, dass jedenfalls Gefälligkeitsgutachten, die der Aufsichtsrat – oder der Vorstand zwecks Vorlage an den Aufsichtsrat – einholt, vor Gericht in der Regel als solche enttarnt werden. Besonders genau muss der Aufsichtsrat hinschauen, wenn ihm ein „Gutachten“ vorgelegt wird, das er nicht selbst in Auftrag gegeben hat. Denn dann liegt es a priori auf der Hand, dass der Gutachter ein geringeres Aufklärungsinteresse als der Aufsichtsrat und möglicherweise sogar ein Interesse an der „Schonung“ des Vorstands haben könnte.

Selbst kreditgebende Banken sind nicht stets daran interessiert, dass ein von ihnen mit der Überprüfung der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft beauftragter Gutachter eine bereits eingetretene Insolvenzreife feststellt, sondern gelegentlich eher daran, dass dies gerade nicht geschieht, damit Gelegenheit besteht, vor Stellung des Insolvenzantrags noch Kredite zurückzuführen. Im Übrigen ist ein „Gutachten“ vor Gericht weitgehend wertlos, wenn der Gutachter durch Hinweise auf eine aus seiner Sicht unvollständige Beurteilungsgrundlage oder andere Vorbehalte selbst zum Ausdruck gebracht hat, dass er sich an seiner Beurteilung im Zweifel nicht festhalten lassen will. Stellungnahmen solcher Art darf der Aufsichtsrat nicht zum Anlass nehmen, sein Bemühen um einen realistischen Eindruck von der Lage der Gesellschaft einzustellen. Ganz im Gegenteil müssen sie als Bestätigung eines bereits entstandenen Verdachts gewertet und zum Anlass genommen werden, die Kontrolle des Vorstands nochmals zu intensivieren.

Aufwand und Vergütung der Aufsichtsratstätigkeit

Das zuvor Gesagte gilt auch für „nebenamtliche“ und sogar für unentgeltlich tätige Aufsichtsratsmitglieder (KG, aaO., Rn. 87), denn Aufsichtsratstätigkeit ist typischerweise nebenamtlich und eine gesetzliche oder von der Rechtsprechung anerkannte Haftungsbefreiung bei unentgeltlicher Tätigkeit oder auch nur eine Staffelung der Verantwortlichkeit nach der Höhe einer Vergütung gibt es nicht. Außerdem sind Aufsichtsratsmitglieder berechtigt, bestimmte Prüfungshandlungen auf Kosten der Gesellschaft durch externe Sachverständige erledigen zu lassen (§ 111 Abs. 2 S. 2 AktG), was ihre Überwachungstätigkeit erleichtert.

Zutreffend hat das Kammergericht insoweit geurteilt: „Auch der Umstand, dass das Aufsichtsratsamt als Nebentätigkeit ausgeübt wird (vgl. § 110 Abs. 3 AktG), kann nicht zu einer anderen Bewertung führen. Zwar ist dieser Umstand im Rahmen der Prüfung des Umfangs der geschuldeten Sorgfaltspflicht durchaus zu berücksichtigen. So genügt es, wenn sich das Aufsichtsratsmitglied für seine Bewertung des Vorstandshandelns so vorbereitet, dass er in den Sitzungen des Aufsichtsrats zu einer kritischen Einschätzung im Sinne eine Plausibilitätskontrolle in der Lage ist und diese Einschätzung ggf. im Gremium diskutiert. Den begrenzten zeitlichen Ressourcen wird dabei gerade dadurch Rechnung getragen, dass der Aufsichtsrat den Vorstand zu näherer Aufklärung und Erläuterung auffordern kann. Ist die Darlegung des Vorstandes nicht ausreichend, so kann der Aufsichtsrat auch externe Berater hinzuziehen. Derartige Maßnahmen sind aber von dem nebenamtlich beschäftigten Aufsichtsrat zu erwarten, weil andernfalls die Einsetzung eines Aufsichtsrates ins Leere laufen würde.“ (KG, aaO., Rn. 71).

Praktisch bedeutet dies, dass Aufsichtsratsmitglied nur werden sollte, wer bereit ist, im Krisenfall auch überobligatorischen zeitlichen Einsatz zu leisten. Außerdem muss er zu einer solchen Ausweitung des zeitlichen Engagements imstande sein, was faktisch dazu zwingt, die Anzahl der wahrgenommenen Aufsichtsratsmandate vorausschauend zu begrenzen. Schon im „Regelbetrieb“, also außerhalb einer krisenhaften Sondersituation, erschöpft sich der zeitliche Aufwand eines Aufsichtsratsmandats nicht in der quartalsweisen oder möglicherweise noch selteneren Teilnahme an Plenums- oder Ausschusssitzungen.

Vielmehr bedarf es zusätzlich der sorgfältigen Vor- und Nachbereitung jeder Sitzung, einer fortwährenden Marktbeobachtung, vor allem der relevanten Branche und der wichtigsten Wettbewerber, sowie einer steten Aktualisierung des Wissens um wesentliche regulatorische Rahmenbedingungen. Schlägt der Regelbetrieb in eine Sondersituation um, muss ein Aufsichtsratsmitglied sich auch in Sondermaterien einarbeiten, bspw. die Grundzüge des Insolvenzrechts, was den zeitlichen Einsatz noch einmal erhöht. All dies ist Grund genug dafür, ein Aufsichtsratsmandat von vornherein nur gegen angemessene Vergütung zu übernehmen. Ist die Gesellschaft zur Zahlung einer angemessenen Vergütung nicht bereit, mag bereits hierin ein Anzeichen dafür gesehen werden, dass gar keinen Wert darauf gelegt wird, ein professionell denkendes und handelndes Aufsichtsratsmitglied zu verpflichten, das seiner gesetzlichen Aufgabe ernsthaft nachkommen will.

Ähnliches gilt, wenn die Gesellschaft jemanden als Aufsichtsratsmitglied gewinnen möchte, der dem Vorstand persönlich verbunden ist oder der nach Ausbildung und beruflicher Erfahrung nicht geeignet ist, den Vorstandsmitgliedern „auf Augenhöhe“ zu begegnen. Auch solche Berufungen lassen ahnen, dass es der Gesellschaft weniger darum geht, den Aufsichtsrat personell effektiv auszustatten als darum, dem Vorstand einen ungebührlich weiten Handlungsspielraum zu sichern.

Resilienz der Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder

Selbst wenn die Gesellschaft den vom Aufsichtsrat zu überwachenden Vorstandsmitgliedern gehört oder wenn die Aktionäre ganz- oder mehrheitlich hinter dem Vorstand stehen, dürfen sich die Aufsichtsratsmitglieder nicht beirren lassen, sondern müssen ihre gesetzlich bestimmte, nicht disponible Überwachungsaufgabe erfüllen. Zutreffend hat das Kammergericht insoweit geurteilt: „Letztlich können sich die Beklagten auch nicht darauf berufen, dass weder der Vorstand noch die personenidentische Gesellschaft etwas unternommen habe und daher auch von dem Aufsichtsrat nicht zu erwarten gewesen sei, tätig zu werden. Der Aufsichtsrat ist ein eigenes unabhängiges Kontrollorgan, das gerade dann von besonderer Bedeutung ist, wenn auf Seiten des Vorstands Versäumnisse zu verzeichnen sind. Versäumnisse des Vorstands können daher von vornherein nicht zu einer Entlastung des Aufsichtsrates führen. Da es vorliegend um den Schutz Dritter, nämlich der Insolvenzgläubiger geht, kann sich der Aufsichtsrat schließlich auch nicht mit dem Argument entlasten, dass die vorliegend voll informierte Gesellschaft selbst nicht tätig geworden ist“ (KG, aaO., Rn. 69).

Man kann es so formulieren: Im Konflikt zwischen Aufsichtsrat und Vorstand darf der Aufsichtsrat es nicht dazu kommen lassen, dass „der Schwanz mit dem Hund wedelt“. Trifft er auf ein übermäßig resilient erscheinendes Vorstandsmitglied, das die Aufklärung über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft verzögert oder sonst behindert, oder eines, das sich sogar weigert, einen gebotenen Insolvenzantrag zu stellen und gesetzlich verbotene Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen zu unterbinden, muss der Aufsichtsrat sämtliche ihm zur Verfügung stehenden legalen Möglichkeiten nutzen, um den Vorstand zur Erfüllung seiner Legalitätspflicht anzuhalten.

Das Kammergericht hat hierzu ausgeführt: „Darüber hinaus und unabhängig hiervon können sich die Beklagten aber auch aus tatsächlichen Gründen nicht darauf berufen, dass ihnen faktisch die Durchsetzungsmacht gefehlt habe, um die Zahlungen zu verhindern. Notfalls wäre der Aufsichtsrat verpflichtet gewesen, die satzungswidrigen Zahlungen gemäß § 111 Abs. 4 S. 2 AktG durch ad-hoc-Vorbehalt von seiner Zustimmung abhängig zu machen und zu verhindern (…). Hätte der Vorstand sich auch über diesen Zustimmungsvorbehalt hinweggesetzt, so wäre dem Aufsichtsrat letztlich die Möglichkeit geblieben, mit der Stellung eines Strafantrages auf den Vorstand einzuwirken. Sofern sich der Vorstand dennoch der Stellung eines Insolvenzantrages widersetzt hätte, so hätte der Aufsichtsrat diesen nach § 84 AktG abberufen müssen mit der Folge, dass er mit dem Eintritt der Führungslosigkeit der Schuldnerin gemäß § 15a Abs. 3 InsO auch selbst zur Stellung des Antrags nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet gewesen wäre“ (KG, aaO., Rn. 85).

Natürlich kann ein Aufsichtsratsmitglied sich dem (Dauer-)Konflikt mit dem Vorstand (und Gesellschaftern) grundsätzlich auch dadurch entziehen, dass es sein Mandat niederlegt. Das ist jedoch gerade in einer wirtschaftlichen Krise der Gesellschaft unter Umständen nicht mehr möglich, weil eine Amtsniederlegung „zur Unzeit“ allgemein für unzulässig gehalten wird.

Nicht gezahlte Versicherungsprämie

Am Rande hat das Kammergericht sich auch mit der D&O-Versicherung befasst. Im entschiedenen Fall war es nämlich so, dass der D&O-Versicherer den beklagten Aufsichtsratsmitgliedern keine Deckung gewähren wollte, weil die Gesellschaft die Versicherungsprämie nicht gezahlt hatte, so dass der Versicherer leistungsfrei war. Den von der Gesellschaft verschuldeten Verlust ihres Versicherungsschutzes hatten die Aufsichtsratsmitglieder dem klagenden Insolvenzverwalter im Wege der Aufrechnung mit einem Schadenersatzanspruch entgegengehalten.

Das war erfolglos: „Denn jedenfalls steht einer Aufrechnung vorliegend bereits die Eigenart des Ersatzanspruchs entgegen. So kann die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 64 GmbHG, wonach eine Aufrechnung in solchen Fällen ausgeschlossen ist (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2019 – II ZR 425/18, m. w. N., zitiert nach juris), ohne Weiteres auf den hiesigen Anspruch des Klägers gegen die Aufsichtsräte übertragen werden. Beide Anspruchsnormen dienen nämlich gleichsam dem Zweck, Masseverkürzungen im Vorfeld des Insolvenzverfahrens zu verhindern bzw. für den Fall, dass das Organ dieser Massesicherungspflicht nicht nachkommt, sicherzustellen, dass das Gesellschaftsvermögen wieder aufgefüllt wird, damit es im Insolvenzverfahren zur ranggerechten und gleichmäßigen Befriedigung aller Gesellschaftsgläubiger zur Verfügung steht (so zu § 64 GmbHG: BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2019 – II ZR 425/18, m. w. N., zitiert nach juris). Die Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen gegen die Schuldnerin würde aber einer Auffüllung des Gesellschaftsvermögens zur ranggerechten und gleichmäßigen Befriedigung aller Gesellschaftsgläubiger gerade entgegenstehen. Vor diesem Hintergrund könnte aber selbst eine abweichende vertragliche Abrede, wonach erst die Versicherung und dann die Aufsichtsräte in Anspruch genommen werden sollten – die von Seiten des Klägers überdies bestritten wurde – nicht zu einer anderen Bewertung führen. Soweit die Beklagten eingewandt haben, dass die Aufrechnung nicht mit zu der Tabelle angemeldeten Forderungen erfolgt sei und die Gläubiger nicht benachteilige, kann dem nicht gefolgt werden. Der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch dient gerade dazu, die Masse zu mehren und die Gläubiger zumindest anteilig zu befriedigen.“ (KG, aaO., Rn. 91)

Für Aufsichtsratsmitglieder folgt hieraus, dass sie sich spätestens bei allerersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Krise der Gesellschaft vergewissern sollten, dass die jährliche Versicherungsprämie jeweils rechtzeitig an den D&O-Versicherer gezahlt wird. Im Falle eines Prämienverzugs sollte anwaltliche Beratung zu der Frage eingeholt werden, ob es sich empfiehlt, das Aufsichtsratsmandat niederzulegen. Ist der Versicherungsvertrag noch nicht gekündigt, können die Aufsichtsratsmitglieder notfalls die Prämie anstelle der Gesellschaft zahlen. Das ist unter Umständen wirtschaftlicher, als den Verlust des Versicherungsschutzes zu riskieren (mit der Perspektive, künftige – und dann viel höhere – anwaltliche Verteidigungskosten und eventuelle Haftungszahlungen aus dem Privatvermögen aufbringen zu müssen). Alternativ oder zusätzlich kann jedes Aufsichtsratsmitglied auf eigene und steuerlich absetzbare Rechnung eine persönliche D&O-Versicherung abschließen, um sich hierdurch von dem über die Gesellschaft zur Verfügung gestellten Versicherungsschutz unabhängig zu machen.

Fazit

Wollte man dem bekannten Zitat von Hermann Josef Abs („Einen Aufsichtsrat haften zu lassen ist schwieriger, als eine Sau am eingeseiften Schwanz festzuhalten“) in Ansehung der heutigen rechtlichen Verhältnisse entgegnen, könnte man sagen: „Viel einträglicher als eine Sau durchs Dorf zu jagen ist es, einen Aufsichtsrat zu verklagen.“ Auf diese Verhältnisse muss sich einstellen, wer Mitglied in einem Aufsichtsrat ist oder werden will.

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