Schlechtes Blatt gut gespielt – Die „Business Judgment Rule"-Karte
vom 29. Oktober 2025Die Business Judgment Rule schützt unternehmerische Entscheidungen, auch wenn sie sich später als wirtschaftlich falsch herausstellen. Voraussetzung ist, dass die Geschäftsleitung nachvollziehbar, informiert und im Unternehmensinteresse gehandelt hat. Warum Dokumentation dabei zur persönlichen Absicherung wird und wo der Schutz endet, erläutert Philipp Hümmerich in seinem Artikel.
Der Gesetzgeber ist nicht völlig leidenschaftslos, wenn es darum geht, Herausforderungen für Geschäftsleitende zu schaffen. Neben den allgemeineren Haftungsnormen (wie etwa § 43 Abs. 2 GmbHG, § 93 Abs. 2 AktG oder § 34 Abs. 2 GenG) existieren zahlreiche spezialgesetzliche Regelungen, die gemeinsam haben, dass sie Geschäftsleitende dazu anhalten wollen, ihren Job mit der höchstmöglichen Sorgfalt auszuüben; e.g. § 15b Insolvenzordnung (InsO), § 69 Abgabenordnung (AO), § 130 Abs. 1 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) oder § 266a Strafgesetzbuch (StGB).
Die stetige Entwicklung des modernen Wirtschaftsverkehrs führt dazu, dass Geschäftsleitende nicht einzig auf den Profit fokussiert sein dürfen, sondern sich ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten bewusst sein müssen, wie § 3 Lieferkettengesetz (LkSG) zeigt. Gleichzeitig hat die globale Digitalisierung zu einer Erweiterung des Aufgabenkreises geführt: Mittlerweile ist anerkannt, dass eine Geschäftsleitung ihrem Unternehmen auch den Schutz der IT-Infrastruktur und der Unternehmensdaten schuldet. Flankierend dazu stehen bereits neue Regularien in den Startlöchern – etwa der Digital Operational Resilience Act (DORA) oder die Informationssicherheitsrichtlinie (NIS2-Richtlinie) –, die potenzielle neue Haftungsfallen bergen. Dem gegenüber stehen das Verlangen der Gesellschafter nach Rentabilität, Wettbewerbsfähigkeit und dem Erobern von Marktanteilen sowie das Interesse der Beschäftigten an einem sicheren Arbeitsplatz.
Safe Harbor
Bei dieser Spannungslage wünscht man sich als Geschäftsleitung nichts dringlicher als einen „sicheren Hafen", in dem man als Manager noch Manager sein darf. Glücklicherweise hat dies auch der Gesetzgeber erkannt und die sogenannte „Business Judgment Rule" im Jahr 2005 in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG implementiert. Wie der Name schon vermuten lässt, ist diese Regel dem US-amerikanischen Recht entliehen und nicht auf die Aktiengesellschaft beschränkt, sondern ebenso auf andere Rechtsformen wie die GmbH übertragbar.
Zuvor hatte der Bundesgerichtshof (BGH) bereits 1997 in seiner „ARAG/Garmenbeck-Entscheidung" (BGH, Urteil vom 21.04.1997 - II ZR 175/95) festgestellt, dass den Vorstand im Rahmen einer unternehmerischen Entscheidung keine persönliche Haftung treffe, sofern nicht die Grenzen eines verantwortungsbewussten, am Unternehmenswohl orientierten Handelns deutlich überschritten, Risiken in unverantwortlicher Weise eingegangen wurden oder das Verhalten aus anderen Gründen als pflichtwidrig einzustufen sei.
Zwar erlangte das Urteil wohl größere Aufmerksamkeit dafür, dass es ebenfalls klarstellte, dass der Aufsichtsrat verpflichtet sei, bei Pflichtverletzungen des Vorstands nicht untätig zu bleiben, sondern diese gegebenenfalls gerichtlich verfolgen müsse. Doch die Business Judgment Rule war nun „eingedeutscht" und ein willkommener Schutzaspekt für Entscheiderinnen und Entscheider.
Ass im Ärmel?
Es würde zu weit gehen, die Business Judgment Rule als das sprichwörtliche „Ass im Ärmel" für Unternehmensleitende zu bezeichnen, aber sie bewirkt, dass Manager, die ein unternehmerisches Risiko bewusst in Kauf genommen haben, für einen Schaden, der aus der Verwirklichung dieses Risikos hervorgeht, nicht haften. Anders ausgedrückt: Nicht bereits die fehlende „glückliche Hand" (so wörtlich der BGH) soll zu einer Schadensersatzpflicht führen. Auch ein schlechtes Blatt kann also gut gespielt werden, aber wie?
Das sogenannte „UMTS-Urteil" des BGH (BGH, Urteil vom 03.03.2008 - II ZR 124/06) kann Antworten geben: Zu einer Zeit als die 5G-Technologie noch lange kein Begriff war, hatten Manager der Telekom AG bei einer Auktion Lizenzen für das „Universal Mobile Telecommunications System" (UMTS) im Wert von rund 17 Milliarden D-Mark erworben und dem Bonner Unternehmen damit einen Schaden in etwa gleicher Höhe beschert. Selbst die Einführung des Euros konnte nicht mehr über die Pleite hinwegtäuschen, denn ein Verlust von 8,5 Milliarden Euro klang in den Ohren der Aktionäre (darunter die Bundesrepublik Deutschland, die in diesem Verfahren Beklagte war) nicht besser.
Schlüsseltechnologie oder Schwarzer Peter
Nach Erwerb der Lizenzen dauerte es länger als erwartet (über drei Jahre), bis die ersten UMTS-Netze durch die Telekom überhaupt in Betrieb genommen werden konnten. Nach der Inbetriebnahme nahm das UMTS-Geschäft allerdings noch lange keine Fahrt auf, da sich zahlreiche technische Probleme auftaten. Unglücklicherweise zeigte sich auch nur eine geringe Nachfrage, zumal verhältnismäßig wenige UMTS-fähige Endgeräte im Umlauf waren. Eine SMS war zur Jahrtausendwende noch salonfähig und Messenger-Dienste mussten sich erst etablieren. Doch damit nicht genug: Kurz nach der Auktion platzte die „Dotcom-Blase", was zum Rückzug zahlreicher Investoren aus der Telekommunikationsbranche führte. Überspitzt ausgedrückt waren die teuer erworbenen Lizenzen innerhalb kurzer Zeit so gut wie wertlos geworden und die „Übeltäter" schnell gefunden.
Der BGH stellte jedoch klar, dass dem Vorstand einer Aktiengesellschaft bei unternehmerischen Entscheidungen ein weiter Ermessensspielraum zuzubilligen ist, ohne den ein unternehmerisches Tätigwerden schlichtweg nicht denkbar wäre. Zu einer Haftung komme es erst, wenn der Vorstand evident, also schlechthin unvertretbar gehandelt oder die Entscheidung auf unzureichender Tatsachengrundlage beruht habe. Hierfür sah der BGH in diesem Fall jedoch keine Anhaltspunkte. Der Vorstand der Telekom hatte bei der UMTS-Versteigerung pflichtgemäß gehandelt und den Bogen seines unternehmerischen Ermessens nicht überspannt. Denn die zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren und vom Vorstand ausgewerteten Informationen deuteten darauf hin, dass die UMTS-Technologie enorme wirtschaftliche Chancen bot. Aus den gleichen Gründen hatten auch Konkurrenzunternehmen der Telekom die damals begehrten UMTS-Lizenzen erworben.
Hinterher weiß man mehr
Vermeintlich einfacher wäre es für den BGH vielleicht gewesen, sich als „nachträglicher Besserwisser" (so wörtlich OLG Koblenz, Urteil vom 23.12.2014 - 3 U 1544/13) hinzustellen und allein vom Eintritt des enormen Schadens auf eine Pflichtverletzung zu schließen. In diesem Zusammenhang stellte der BGH jedoch Folgendes klar:
Eine gerichtliche Überprüfung unternehmerischen Handelns findet nur dahin statt, ob dem Geschäftsleiter in der jeweiligen Situation ein Ermessensspielraum zugestanden hat und ob dieses Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt worden ist. Damit distanziert sich der BGH von jedweder Erwartung, er müsse die Zweckmäßigkeit der unternehmerischen Entscheidung bewerten. Vielmehr soll der Prozess der Entscheidungsfindung Gegenstand der Beurteilung sein – frei nach dem Motto: „A court will not substitute its own notions of what is or is not sound business judgment" (Aronson vs. Lewis, 473 A.2d 805, 812 (Del. 1984)).
Ein Gericht muss zudem unabhängig von später gewonnenen Erkenntnissen urteilen. Denn es liegt auf der Hand, dass man im Nachhinein immer schlauer ist („Hindsight Bias", auch bekannt als Rückschaufehler). Doch dem Manager, der eine risikobehaftete Entscheidung zu treffen hat, steht nur sein gegenwärtiger Horizont zur Verfügung, sodass der BGH auch nur diese Perspektive („ex-ante-Sicht") als maßgeblich erachtet
Zuvor hatte der Bundesgerichtshof (BGH) bereits 1997 in seiner „ARAG/Garmenbeck-Entscheidung" (BGH, Urteil vom 21.04.1997 - II ZR 175/95) festgestellt, dass den Vorstand im Rahmen einer unternehmerischen Entscheidung keine persönliche Haftung treffe, sofern nicht die Grenzen eines verantwortungsbewussten, am Unternehmenswohl orientierten Handelns deutlich überschritten, Risiken in unverantwortlicher Weise eingegangen wurden oder das Verhalten aus anderen Gründen als pflichtwidrig einzustufen sei.
Zwar erlangte das Urteil wohl größere Aufmerksamkeit dafür, dass es ebenfalls klarstellte, dass der Aufsichtsrat verpflichtet sei, bei Pflichtverletzungen des Vorstands nicht untätig zu bleiben, sondern diese gegebenenfalls gerichtlich verfolgen müsse. Doch die Business Judgment Rule war nun „eingedeutscht" und ein willkommener Schutzaspekt für Entscheiderinnen und Entscheider.
Wann bin ich sicher?
Wann alle verfügbaren Informationen ausgeschöpft sind, kann im Übrigen durchaus diskutiert werden, da bei einer unternehmerischen Entscheidung gerade das zeitliche Momentum essenziell sein kann. Wem nützt es, wenn eine Geschäftschance dadurch verpasst wird, dass noch weitere Informationsquellen ausgewertet werden, die die (inzwischen vertane) Marktchance noch ein weiteres Mal bestätigen? Wer als Manager zu viel zweifelt und dadurch kostbare Zeit verstreichen lässt, ist als Entscheider möglicherweise fehl am Platz. Denn wer ein überspanntes Sicherheitsbedürfnis im Hinblick auf die Absicherung von unternehmerischen Entscheidungen an den Tag legt, riskiert, von einem Mitbewerber überholt zu werden.
Es wäre aus Managersicht aber dennoch leichtsinnig, sich anhand eines „Bauchgefühls" voreilig zu entscheiden und sich im Falle eines wirtschaftlichen Misslingens auf den Haftungsausschlussgrund der Business Judgment Rule zu verlassen. Dies zeigt ein jüngeres Urteil des Oberlandesgerichts Hamm (OLG Hamm, Urteil vom 6.4.2022 – 8 U 73/12). Im Fokus der Entscheidung stand die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern einer Aktiengesellschaft aufgrund der unterlassenen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen frühere Vorstandsmitglieder (die vorgenannte ARAG/Garmenbeck-Entscheidung lässt grüßen...). Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Das Gericht verurteilte die beklagten Aufsichtsratsmitglieder zu Schadensersatzzahlungen von insgesamt über 53 Millionen Euro.
Teure Untätigkeit
Der Insolvenzverwalter einer Aktiengesellschaft war hier der Ansicht, dass ehemalige Vorstandsmitglieder wirtschaftlich nachteilige Entscheidungen getroffen hatten (insbesondere Abschluss von Mietverträgen sowie Veräußerung von Immobilien unter Marktwert), die letztendlich in der Insolvenz des Unternehmens gipfelten. Die Aufsichtsräte seien jedoch ihrer Pflicht nicht nachgekommen, gegen die ehemaligen Vorstände vorzugehen. Ansprüche auf Schadensersatz gegen die Alt-Vorstände ließen sie verjähren. Die Aufsichtsratsmitglieder wandten ein, ihre Entscheidung, keine Schadensersatzansprüche gegen die früheren Vorstände geltend zu machen, basiere auf einer sorgfältigen Abwägung der Unternehmensinteressen.
Das Gericht befasste sich in seiner Entscheidung mit der Anwendung der Business Judgment Rule sowohl im Hinblick auf den früheren Vorstand als auch auf den Aufsichtsrat. In beiden Fällen war die Sache eindeutig. Die Beweisaufnahme zeigte, dass bereits ein nicht unerheblicher Teil der abgeschlossenen Verträge in einem solchen Umfang wirtschaftlich nachteilig war und dies bereits im Zeitpunkt ihrer Abschlüsse so klar erkennbar war, dass deren Abschluss nicht mehr im Ermessen der Business Judgment Rule der seinerzeit verantwortlichen Vorstände gelegen habe. Entgegenstehende strategische und wirtschaftliche Vorteile für die Aktiengesellschaft, die es als nachvollziehbare unternehmerische Entscheidung hätten erscheinen lassen können, die Verträge trotz der gravierenden Abweichungen von den marktüblichen Konditionen abzuschließen, konnte das Gericht nicht feststellen.
Der Aufsichtsrat habe hingegen bei der Entscheidungsfindung, keine Ansprüche geltend zu machen, nicht alle maßgeblichen Faktoren aufgeklärt und bei seiner Abwägung berücksichtigt. Insbesondere hatte sich der Aufsichtsrat auf externe Gutachten verlassen, ohne diese einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Geschäftsleitungen leben trotz des hilfreichen Instruments der Business Judgment Rule nicht ohne die schwelende Gefahr der persönlichen Inanspruchnahme. Eine Geschäftsleitung darf und soll aber unternehmerisch handeln können, weswegen ihr anerkanntermaßen ein weiter Ermessensspielraum zusteht, der durch die Gerichte nur eingeschränkt überprüfbar ist. Der Ermessensspielraum endet erst dort, wo die Grundprinzipien ordnungsgemäßer Unternehmensführung eindeutig missachtet und somit die Grenzen verantwortungsbewussten unternehmerischen Handelns deutlich überschritten werden. Nicht vorher!
Fehleinschätzungen sind grundsätzlich von diesem Ermessen umfasst, solange die Entscheidungen auf einer ordnungsgemäßen Informationsgrundlage getroffen und am Wohle des Unternehmens ausgerichtet wurden. Oftmals wird Managern daher ans Herz gelegt, ihre unternehmerischen Entscheidungen zu dokumentieren, damit im Fall einer unglücklichen Hand später nachvollzogen werden kann, dass sie das Für und Wider verschiedener Vorgehensweisen sorgfältig abgewogen haben.