Märchen und Mythen

Was Juristen in Unternehmen, Konzernen und bei D&O-Versicherern treiben, wenn sie ihrem Tagwerk nachgehen, ist für juristisch nicht bewanderte Zaungäste kaum nachvollziehbar. Nicht, weil – jedenfalls meistens – nicht Hand und Fuß hätte, was getan wird, sondern weil die rechtlichen Regeln, denen das geschäftige Treiben folgt, ohne profunde Vorkenntnis einfach nicht zu durchschauen sind.


Umgekehrt kann ein Unternehmensjurist ja auch nicht, noch nicht einmal intuitiv, beurteilen, ob die Berechnungen eines Epidemiologen, um einmal ein aktuelles Beispiel zu nehmen, plausibel sind, einfach weil ihm jegliches zum Verständnis notwendige Vorwissen fehlt.

Zaungast ist auch, wer in der D&O-Versicherung als unbefangener Beobachter – nennen wir ihn: Versicherter – den Wissentlichkeitsausschluss betrachtet. Die versicherungsvertragliche Klausel ist zwar kurz und besagt nicht mehr als dass der Versicherer keinen Versicherungsschutz gewährt, wenn der Versicherte eine ihm haftungsrechtlich zur Last gelegte Pflichtverletzung wissentlich verwirklicht. Das Wörtchen „wissentlich“ hat es jedoch in sich. Jedenfalls ranken sich Märchen und Mythen hierum, was in der Praxis der D&O-Versicherung darin gipfelt, dass Versicherten eingeredet wird, dieser Ausschluss werde bei jeder Gelegenheit vom Versicherer „gezogen“, um sich vor einer eigentlich bestehenden Leistungspflicht zu drücken. Sogar spezielle Deckungsklagerechtsschutzversicherungen wurden und werden mit diesem Argument beworben, um die künstlich geschürte Verunsicherung zu Geld zu machen.

Dabei besagt der Wissentlichkeitsausschluss eigentlich etwas völlig Selbstverständliches, nämlich dass der Versicherer natürlich nicht mit seinem Geld dafür einstehen will, wenn ein Versicherter einem anderen pflichtwidrig Schaden zufügt, obwohl der Schädiger im Moment seines Tuns oder Unterlassens seine Pflicht genau kennt und genauso genau weiß, dass er sich pflichtwidrig verhält. Im Straßenverkehr: Wer durch Besuch einer Fahrschule die Fahrerlaubnis erlangt hat, also die Verkehrsregeln kennt, hiernach bei vollem Bewusstsein auf eine rot leuchtende Ampel zufährt, das Rotlicht auch als solches wahrnimmt und dennoch in den Kreuzungsbereich einfährt, kann – selbst wenn er darauf vertraut, dass alles gut gehen werde – nicht erwarten, dass der Versicherer für die Folgen der Pflichtverletzung einsteht, wenn es dann doch nicht gut geht. Für Regelverletzungen im geschäftlichen Bereich gilt genau das Gleiche.

Fake News

Leider wird dieser klare Regelungsgehalt des Wissentlichkeitsausschlusses oft vernebelt, interessanterweise aber nur in der D&O-Versicherung, obwohl der Ausschluss als solcher sich auch in vielen andere Versicherungsprodukten findet, namentlich den Berufshaftpflichtversicherungen der Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Jüngst hat beispielsweise Theo Langheid, den man hier nicht weiter vorstellen muss, eine von ihm früher schon einmal geworfene Nebelkerze erneut gezündet. Sein Wort hat angesichts seiner langjährigen Erfahrung Gewicht, weshalb es besonders geeignet ist, unangebrachte Verunsicherung zu schüren.

In einem Blog auf VersRonline vom 15.04.2021 – VersR BLOG: Langheid, Der Praxistest – Die Akkumulation diverser Pflichtverletzungen im VW-Dieselskandal – meint Langheid unter Bezug auf ein schon etwas älteres Urteil des BGH (VersR 2015, 1156), dass dann, wenn ein Schaden von mehreren Versicherten pflichtwidrig verursacht wird, das wissentlich pflichtwidrige Handeln eines von ihnen genüge, um auch den nur fahrlässig oder sogar schuldlos handelnden anderen Versicherten den Versicherungsschutz zu verweigern. Will sagen: Der Versicherer soll einem Versicherten, der selbst den Wissentlichkeitsausschluss – völlig unstreitig – nicht verwirklicht hat, den Versicherungsschutz mit der Begründung verwehren können, dass ein anderer Versicherter den Ausschluss verwirklicht habe.

Das hätte, wenn es denn wahr wäre, große praktische Bedeutung, bspw. wenn ein Insolvenzverwalter die wissentlich pflichtwidrig handelnden früheren Vorstands- und die nicht wissentlich handelnden früheren Aufsichtsratsmitglieder einer AG wegen Insolvenzverschleppung gem. § 15 b Abs. 4 InsO n. F. auf Schadenersatz in Anspruch nimmt. Oder wenn eine GmbH wegen eines ihr entstandenen Schadens mehrere Mitgeschäftsführer auf Schadenersatz verklagt und sich herausstellt, dass der ressortzuständige Geschäftsführer wissentlich pflichtwidrig gehandelt hat, seine Mitgeschäftsführer hiervon aber nur fahrlässig nichts mitbekommen haben. Oder wenn ein leitender Angestellter wissentlich eine Pflicht verletzt hat und sein Geschäftsführer ihn fahrlässig nicht ausreichend überwacht hat. Oder, oder, oder. Die praktischen Fälle sind unzählig, da arbeitsteiliges unternehmerisches Handeln es typischerweise mit sich bringt, dass ein Schaden in der Regel nicht von einem alleine, sondern von mehreren verursacht wird, teils durch pflichtwidriges Tun, teils durch pflichtwidriges Unterlassen und teils wissentlich, teils aber eben auch nur fahrlässig oder sogar schuldlos.

Faktencheck

Insgesamt muss man sagen: Bad news für die Versicherten. Wenn Langheid recht hätte, müssten Geschäftsführer, Vorstände und Aufsichtsratsmitglieder mit Blick auf ihren Versicherungsschutz ernstlich beunruhigt sein, denn jeder einzelne hätte für die Unredlichkeit anderer einzustehen. Das gilt besonders für die Verantwortlichen im VW-Dieselskandal, mit denen er seine Theorie von der „Akkumulation diverser Pflichtverletzungen“ illustriert.

Langheid hat allerdings nicht recht. Seine Theorie ist eine Meinung und nicht mehr. Es gibt keine Rechtsprechung, die diese Meinung teilt. Es gibt noch nicht einmal einen geringsten Anhaltspunkt dafür, dass solche Rechtsprechung jemals zustande kommen könnte. Auch das von Langheid angesprochene BGH-Urteil, das er zum Anlass nimmt, seine Theorie zu entfalten, enthält mit keiner Silbe die Behauptung, dass ein Versicherter sich die Wissentlichkeit eines anderen Versicherten zurechnen lassen müsse. Es besagt lediglich, dass ein Versicherter, der einen Schaden durch mehrere eigene (!) Pflichtverletzungen verursacht und hierbei teils wissentlich, teils fahrlässig handelt, sich insgesamt den Wissentlichkeitsausschluss entgegenhalten lassen müsse.

Hieraus lässt sich für den völlig anderen Sachverhalt, dass mehrere Versicherte teils wissentlich, teils fahrlässig einen Schaden verursachen, nichts herleiten. Es gibt auch keinerlei Rechtsgrundlage für die beruhigend gemeinte Behauptung Langheids, die Versicherten würden „bei der Freistellung keinen Nachteil erleiden, weil ihre Haftung von vorneherein um den Anteil gekürzt wird, der auf die wissentliche Handlung entfällt.“ Dass von mehreren Gesamtschuldnern einer dem Gläubiger – hier: der von ihren Organmitgliedern geschädigten Gesellschaft – nicht hafte, wenn und soweit ein anderer nicht versichert ist, ist eine – je nach Sichtweise – schöne oder unschöne Erfindung, aber eben auch nur eine Erfindung, die mit der juristischen Realität nichts zu tun hat. Ihr liegt auch keine gefestigte rechtliche Logik zugrunde. Vielmehr gilt insoweit ein genau gegenteiliger Grundsatz, nämlich dass der Umfang der Haftung einer Person durch das Bestehen oder Nichtbestehen von Versicherungsschutz nicht beeinflusst wird. Für das Nichtbestehen von Versicherungsschutz eines Dritten muss das erst recht gelten.

Alles ist gut

Von daher: Man kann Entwarnung geben. Märchen und Mythen müssen Versicherte nicht sorgen. Makler müssen nicht bei Versicherern vorstellig werden und um Ergänzung der Versicherungsverträge mit dem Inhalt bitten, dass die Wissentlichkeit eines Versicherten keinem anderen Versicherten zugerechnet werden kann. Viele Versicherungsverträge enthalten solche Klauseln deklaratorischer Art ohnehin schon. Aber auch ohne dies gilt nichts anderes. Um mit Langheids Anspielung auf VW zu schließen: „Es ist gut, dass es jetzt zum Praxistest kommt.“

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