Das Versicherungsverhältnis ist in besonderem Maße durch Treu und Glauben geprägt. Das ist nichts Neues, sondern schon lange, nämlich seit der Rechtsprechung des Reichsgerichts, anerkannt, mit der Folge, dass – auch und gerade außerhalb einer ausdrücklichen versicherungsvertraglichen Regelung – der Versicherer genauso auf die berechtigten Interessen des Versicherungsnehmers und der Versicherten Rücksicht nehmen muss wie umgekehrt diese auf die berechtigten Interessen des Versicherers.
Die gegenseitige Pflicht zur Rücksichtnahme zeigt sich bspw. darin, dass die Beteiligten einander über erkennbare Irrtümer aufzuklären haben: Der Versicherer kann im Einzelfall verpflichtet sein, den Versicherungsnehmer aufzuklären, wenn er erkennt, dass dieser sich trotz Beratung durch einen Versicherungsmakler über die Reichweite des Versicherungsschutzes irrt. Und ein Versicherter kann im Einzelfall verpflichtet sein, den Versicherer ungefragt auf einen regulierungsrelevanten Umstand hinzuweisen, um eine nicht geschuldete Regulierung zu vermeiden.
Worauf darf der Versicherer seine Rechtsschutzentscheidung stützen?
Der Bundesgerichtshof hat die Rücksichtnahmepflicht des Versicherers jüngst in einer Entscheidung zur Rechtsschutzversicherung aufgegriffen, die ohne Abstriche ganz genauso für die Haftpflicht- und damit für die D&O-Versicherung gelten wird.
Es ging um die Frage, welchen Tatsachenvortrag der Versicherer seiner Deckungsprüfung zugrunde legen muss, wenn der Versicherte einen Sachverhalt behauptet, aufgrund dessen ihm Deckung zu gewähren sein würde, während der Gegner des Versicherten einen deckungsausschließenden Sachverhalt vorträgt. Hierzu meint der BGH (Urt. v. 31.03.2021 – IV ZR 221/19, VersR 2021, 696 Rn. 40 f.), das Wesen des Versicherungsvertrags bestehe im Versprechen einer Unterstützung der Interessenwahrnehmung des Versicherten, „der daran zu Recht eine Solidaritätserwartung knüpft.“ Dieser Unterstützung sei es immanent, dass der Versicherer im Rahmen der Deckungsprüfung „die Tatsachen zugrunde legt, mit denen der [Versicherte] sein Rechtsschutzbegehren begründet, denn nur so wird diesem die erwartete Unterstützung (…) zuteil.“ Entscheidend sei, dass bei der anfänglichen Deckungsprüfung „noch kein Raum ist, Tatsachenbehauptungen einerseits des [Versicherten] und andererseits des Anspruchsgegners jeweils auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen oder zu beweisen. In dieser Situation hätte es (…) der Anspruchsgegner (…), wäre auch auf sein Vorbringen abzustellen, in der Hand, dem [Versicherten] den Rechtsschutz mittels bloßer Tatsachenbehauptungen von vornherein zu entziehen (…).“ Dem Anspruchsgegner des Versicherten bereits zu solch frühem Zeitpunkt „derart weitgehenden Einfluss auf die Leistungspflicht des Versicherers zuzugestehen, lässt sich mit dem Vertragszweck einer Unterstützung der Interessenwahrnehmung des [Versicherten] nicht vereinbaren.“
Praktische Konsequenzen für D&O-Versicherer
Wie gesagt wird das, was der BGH zur Rechtsschutzversicherung geurteilt hat, ganz genauso für die Haftpflicht- und damit für die D&O-Versicherung gelten. Tragen Anspruchsteller und Versicherter unterschiedliche Tatsachen vor, darf der D&O-Versicherer die Gewährung von Rechtsschutz also nicht allein deshalb verweigern, weil der Anspruchsteller deckungsschädliche Tatsachen vorträgt. „Nicht allein deshalb“ bedeutet aber zugleich, dass der Versicherer nicht daran gehindert ist, die Deckung abzulehnen, wenn er der Meinung ist, dass der deckungsschädliche Sachverhalt, den der Anspruchsteller vorträgt, sich nicht bloß in Behauptungen erschöpft, sondern bewiesen werden kann. Denn der BGH verlangt vom Versicherer selbstverständlich nicht, sehenden Auges eine nicht geschuldete Leistung zu erbringen. Daher ist es dem Versicherer unbenommen, nach Prüfung der unterschiedlichen Tatsachenbehauptungen von Anspruchsteller und Versichertem der Schilderung des Anspruchsteller Glauben zu schenken, die Deckung deshalb abzulehnen und sich in einem Deckungsprozess gegen den Deckungsanspruch des Versicherten zur Wehr zu setzen.
Er muss diese Prüfung nur innerhalb der recht kurzen Frist, die ihm nach Fälligkeit des Rechtsschutzanspruchs bleibt, „auf die Reihe kriegen“, was oft nicht gelingen wird, und natürlich trägt er dann auch das Risiko, dem Falschen geglaubt und die Deckung zu Unrecht verwehrt zu haben. Zur Vermeidung eines Schadenersatzanspruchs wegen Vertragsverletzung wird ein verantwortungsbewusster Versicherer seine Deckungsentscheidung deshalb nur dann auf den Sachvortrag des Gegners seines Versicherten stützen, wenn er sich absolut sicher ist, dass der Versicherte falsch vorträgt, um nicht geschuldeten Versicherungsschutz zu erlangen. In allen anderen Fällen wird der Versicherer zunächst vorläufigen Rechtsschutz unter Vorbehalt gewähren und eine endgültige Entscheidung aufschieben, bis sich im weiteren Verlauf herauskristallisiert, wessen Sachverhaltsschilderung zutrifft.
Was hat der Versicherer nach Unwirksamerklärung einer AVB-Regelung zu tun?
Was der BGH mit „Solidaritätserwartung“ des Versicherten bezeichnet, ist nichts anderes als die aus umgekehrtem Blickwinkel beschriebene Rücksichtnahmepflicht des Versicherers. Interessanterweise geht diese Pflicht aber noch weiter. Hierzu muss erwähnt werden, dass der Versicherer im vom BGH entschiedenen Streitfall sich in den AVB sogar ausdrücklich vorbehalten hatte, im Rahmen der Deckungsprüfung auch (deckungsschädliche) Tatsachenbehauptungen des Gegners des Versicherten berücksichtigen zu dürfen. Da diese Regelung den Versicherten – wie geschildert – wegen Gefährdung des Vertragszwecks entgegen Treu und Glauben unangemessen benachteiligt, erklärte der BGH sie gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB für unwirksam.
Die Unwirksamkeit soll nach Meinung des Gerichts wiederum die weitere (Rücksichtnahme-)Pflicht des Versicherers nach sich ziehen, den Versicherten hierüber zu informieren. Das folge aus § 8 Abs. 1 UWG. Hiernach sei der Versicherer zur „Beseitigung der von der unwirksamen Klausel weiterhin ausgehenden Gefährdung“ verpflichtet (BGH, aaO, Rn. 55). Es reiche nicht aus, dass er es „künftig unterlässt, die beanstandete Klausel bei Vertragsschlüssen zu verwenden und sich in laufenden Verträgen darauf zu berufen. Denn die Klausel kann in laufenden Verträgen den jeweiligen (Versicherten) auch dann zu Fehlentscheidungen veranlassen, wenn sich die Kl. darauf nicht ausdrücklich beruft, etwa weil es zu gar keinem Kontakt zwischen den Vertragsparteien kommt. So kann ein (Versicherter) der Klausel beispielsweise irrtümlich entnehmen, er habe in einem Ausgangsstreit infolge der Behauptungen seines Gegners keinen Versicherungsschutz, und sodann aus Kostengründen auf die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen verzichten.“ (BGH, aaO, Rn. 55).
Der Anspruch aus § 8 Abs. 1 UWG steht zwar nicht dem Versicherten, sondern nur den Wettbewerbern des Versicherers und bestimmten verbraucherschützenden Organisationen zu (im entschiedenen Fall hatte ein Verbraucherschutzverein den Versicherer verklagt), das ändert im Ergebnis jedoch nichts an der vom BGH statuierten Informationspflicht des Versicherers.
Praktische Konsequenzen für D&O-Versicherer
Klar ist zunächst, dass ein Versicherer eine höchstrichterlich rechtskräftig als unwirksam beurteilte AVB-Regelung in einem konkreten Versicherungsfall nicht gegen den Versicherten verwenden kann, denn sie ist ja unwirksam. Das gilt nicht nur, wenn das Urteil den Versicherer selbst getroffen hat, sondern auch, wenn es sich auf eine inhaltlich identische Klausel eines anderen Versicherers bezieht und veröffentlicht ist. Dann steht die Unwirksamkeit rechtskräftig zwar nur mit Wirkung gegen den anderen Versicherer fest. Bei identischem Wording ist es einem Versicherer aber schon aufgrund seiner Rücksichtnahmepflicht verwehrt, eine bekanntermaßen höchstrichterlich als unwirksam beurteilte Klausel weiterhin zu verwenden. Nicht identische, also nur ähnliche Klauseln dürfen hingegen genauso weiterverwendet werden wie Klauseln, über die noch nicht höchstrichterlich, sondern nur auf land- oder oberlandesgerichtlicher Ebene entschieden worden ist. Insoweit ist nämlich noch keine über die jeweiligen Einzelfälle hinauswirkende abschließende Entscheidung gefallen.
Klar ist auch, dass der Versicherer sämtliche Versicherungsnehmer, in deren Versicherungsverträgen sich eine höchstrichterlich rechtskräftig für unwirksam erklärte AVB-Regelung befindet, darüber informieren muss, völlig unabhängig davon, ob bereits ein Versicherungsfall angezeigt worden ist oder nicht. Wie gesagt obliegt es dem Versicherer nach Meinung des BGH, dem Irrtum vorzubeugen, dass eine in den AVB vereinbarte leistungsbegrenzende Klausel wirksam sei, damit der Versicherungsnehmer nicht zu durch den unwirksamen AVB-Text verursachten Fehlentscheidungen veranlasst werden kann.
Nicht ganz so klar ist, wer eigentlich wen informieren muss, wenn der Versicherungsvertrag – wie im Fall der D&O-Versicherung – eine Fremdversicherung beinhaltet, bei der Versicherungsnehmer und Versicherte unterschiedliche Personen sind. Die Antwort auf diese Frage wird sich danach richten müssen, dass der BGH mit der Informationspflicht des Versicherers über die Unwirksamkeit einer AVB-Regelung einen klauselbedingten Irrtum des AVB-Lesers vermeiden will. Folglich hat der Versicherer den erwartbaren Leser zu informieren. Will sagen: Solange der Versicherer die AVB nur dem Versicherungsnehmer überlassen hat, muss er auch nur ihn informieren. Gibt er die AVB, etwa anlässlich eines Schadenfalls, an einen Versicherten heraus, wird er zusätzlich diesen informieren müssen. Überlässt hingegen der Versicherungsnehmer die vom Versicherer erhaltenen AVB einem Versicherten, wird es nach Treu und Glauben dem Versicherungsnehmer obliegen, neben den AVB auch die vom Versicherer erhaltene Information über die Unwirksamkeit einer AVB-Regelung an den Versicherten weiterzuleiten.